Städtische Kunstsammlung
Holzschnitt und Hochdruck
Der Schwerpunkt der Sammlungstätigkeit des Kunstmuseum Reutlingen | Spendhaus liegt beim künstlerischen Hochdruck vom 19. Jahrhundert bis heute. Dieses spezifische Profil wurde im Zuge der Museumsgründung Ende der 1980er-Jahre entwickelt und hat historische Ursachen – waren es doch zwei Holzschneider, die unter den Reutlinger Künstlern des vergangenen Jahrhunderts besonders herausragen und deren Werke den Kern der Sammlung bilden: Wilhelm Laage (1868–1930) und HAP Grieshaber (1909–1981). Beide Künstler trugen in ihrer jeweiligen Zeit wesentlich dazu bei, den Holzschnitt zu einem genuinen Medium der modernen Kunst zu machen und seine Ausdrucksmöglichkeiten in vielfältiger Weise zu erweitern. Durch systematische Ankäufe, aber auch durch bedeutende Stiftungen konnte seit den 1980er-Jahren eine repräsentative Sammlung zum Hochdruck des 20. Jahrhunderts vor allem in Deutschland aufgebaut werden, die ständig wächst. Im Bereich der zeitgenössischen Kunst sollen neben dem Werk deutscher Künstlerinnen und Künstler auch die wichtigsten internationalen Tendenzen exemplarisch dokumentiert werden. Vermehrt werden Kunstschaffende, die neue Wege finden, mit Hochdruck und mit Holz als Material in besonderer Weise umzugehen, in die Sammlung integriert. Auch die Präsenz von weiblichen Kunstschaffenden in der Sammlung zu stärken, steht im Fokus.
Holzschnitt der Klassischen Moderne
Die Technik des Holzschnitts, deren Ursprünge in der Buchillustration liegen, erreichte in der Kunst des 15. und 16. Jahrhunderts einen hohen Stellenwert, entwickelte sich aber in den nachfolgenden Jahrhunderten zunehmend in Richtung einer reinen Reproduktionstechnik. Am Ende des 19. Jahrhunderts erlebte der künstlerische Holzschnitt in Europa seine Wiedergeburt, beispielweise durch Edvard Munch und Félix Vallotton. Die Rezeption japanischer Farbholzschnitte spielte dabei eine wesentliche Rolle. Die Bestände des Kunstmuseums setzen mit den durch den Japonismus geprägten Arbeiten des Jugendstils ein, u.a. mit Werken von Emil Orlik und Carl Thiemann.
Besonders ausdrucksstarke Holzschnitte schufen die deutschen Expressionisten. Vor allem die Brücke-Künstler Kirchner, Heckel, Schmidt-Rottluff, Nolde und Pechstein bevorzugten den harten, kantigen Linienholzschnitt. Die frühexpressionistischen Arbeiten Wilhelm Laages stehen ihnen ebenso nahe wie der Welt Ernst Barlachs. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Spektrum der Stilrichtungen noch breiter: neben den sozialkritischen Bildern von Käthe Kollwitz und Frans Masereel finden sich die kubistischen Stadtlandschaften Lyonel Feiningers, die realistischen Portraits von Max Beckmann und Conrad Felixmüller sowie die abstrahierten Tierdarstellungen von Ewald Mataré und Gerhard Marcks.
HAP Grieshaber (1909–1981)
HAP (Helmut Andreas Paul) Grieshaber bereicherte nach dem Zweiten Weltkrieg das Medium Holzschnitt und entwickelte den Holzschnitt zum eigenständigen monumentalen Wandbild weiter. In der Zeit des Nationalsozialismus konnte der in Reutlingen lebende Künstler nur im Verborgenen künstlerisch arbeiten, da er als Gegner der Diktatur Ausstellungs- und Berufsverbot hatte. Dennoch entstand bereits in dieser Zeit ein beachtliches Holzschnittwerk. Landschaften der Schwäbischen Alb, Tiere, religiöse und mythologische Themen werden immer wieder im zeitgenössischen und politischen Kontext, aber auch davon losgelöst variiert. Während die frühen Arbeiten zunächst stark vom mittelalterlichen Linienholzschnitt ausgehen, gelingt Grieshaber seit den späten 1930er-Jahren eine überzeugende Synthese des Linienschnittes mit dem Flächenholzschnitt. Anfang der 1950er-Jahre entstehen während seiner Tätigkeit an der Bernstein-Schule die ersten lebensgroßen Holzschnitte Grieshabers, die er später zu teilweise mehrteiligen Zyklen erweiterte. Den Weg zur Monumentalisierung des Holzschnitts führte er mit der documenta-Wand für die documenta 1964 und in vielen Großbildern für öffentliche Bauten fort. Zu seinen größten Arbeiten zählt der 1965 für den Neubau des Reutlinger Rathauses entstandene „Sturmbock“ – ein zum Holzstock verarbeiteter Baumstamm von 12 Meter Länge, der im Foyer des Ratsgebäudes besichtigt werden kann. Das Kunstmuseum Reutlingen besitzt eine der umfangreichsten Sammlungen der häufig nur in wenigen Exemplaren gedruckten Holzschnitte Grieshabers. Seine Themen spannen sich dabei von der Flora und Fauna der Schwäbischen Alb über Liebespaare, religiöse und mythologische Darstellungen bis hin zu politischen, sozialen und ökologischen Fragen. Im Zentrum seines Werks stand dabei stets der Mensch, für den er kämpfte, wann immer es ihm nötig erschien.
Hochdruck nach 1945
Die Kunst des Expressionismus wurde im nationalsozialistischen Deutschland als „entartet“ diffamiert und ihre Protagonisten als „Kulturbolschewisten“ verfolgt, woraufhin viele Künstlerinnen und Künstler das Land verlassen mussten oder in die innere Emigration gingen. Der Holzschnitt bekam vornehmlich illustrative Funktionen. Nach dem Ende des Dritten Reichs war HAP Grieshaber der wichtigste Erneuerer des künstlerischen Holzschnitts. Wesentliche Impulse erhielt der Hochdruck nach 1945 außerdem durch Künstler wie Ewald Mataré, Karl Rössing und Horst Janssen sowie Otto Pankok, Carl-Heinz Kliemann und Gerhard Altenbourg. Diese Künstler suchten ebenfalls neue künstlerische Wege, ohne dabei die Gegenständlichkeit der Motive aufzugeben.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte sich die Abstraktion als bestimmende Kunstsprache in der westlichen Welt durch. Deren Vertreter widmeten sich nur vereinzelt dem Holzschnitt; in der Sammlung dokumentiert durch Arbeiten von Heinz Kreutz, Hans Hartung, Werner Höll und Eduardo Chillida.
Zeitgenössischer Hochdruck
Seit Beginn der 1980er-Jahre gewannen Holz- und Linolschnitt zunächst unter dem Einfluss der „Neuen Figuration“ und der „Jungen Wilden“ (Georg Baselitz, Markus Lüpertz, A.R. Penck, Jörg Immendorff) an Bedeutung, sowohl für die Auseinandersetzung mit der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit (Joseph Beuys, Felix Droese) als auch für experimentelle künstlerische Techniken. Die Drucke erreichen nicht selten große Formate und werden in neuartigen Techniken oder auf ungewöhnlichen Materialien gedruckt. Der Druckstock kann dabei zur eigenständigen Skulptur werden, entweder parallel zu den Drucken oder sogar vollkommen unabhängig davon (Gustav Kluge). Die traditionellen Formen und Vorstellungen, die sich an den Hochdruck knüpfen, werden so im Zeitalter der neuen Medien und der Digitalisierung ständig erweitert.
Druckstöcke
Neben den Hochdrucken auf Papier verfügt das Kunstmuseum über umfangreiche Bestände an Druckstöcken in seiner Sammlung, beispielsweise von Wolfgang Mattheuer, Carl-Heinz Kliemann, Gustav Kluge und Matthias Mansen.
Gemälde und Zeichnungen
Die Sammlung des Kunstmuseums umfasst mehr als 1.000 Gemälde und über 2.000 Zeichnungen. Ein Schwerpunkt der Sammlungstätigkeit für die Städtische Kunstsammlung lag vor der Museumsgründung (1989) auf der regionalen Kunst, so sind Werke von Paul Wilhelm Keller-Reutlingen, Wilhelm Laage, Walter Ast, Wilhelm Kehrer, Fritz Ketz, Irene Widmann-Gaiser, Gude Schaal, Winand Victor, Gerhard Grimm, Hans Gassebner und anderen in der Sammlung. Im Jahr 1954 schließlich gelangte mit der Schenkung der Sammlung Ziegler ein großes Konvolut an Handzeichnungen und Gemälden von Renaissance bis Romantik in die Sammlung. Die Sammlung Ziegler am Kunstmuseum Reutlingen ist weitgehend unerforscht und unpubliziert und wird in den kommenden Jahren im Fokus der Forschungsarbeit des Museums stehen.